Beitrag
von Superduker » 10.09.2021 08:09
Von Patty Basler.
Viel zu lang um den Beitrag zu lesen, viel zu gut um es zu lassen...
Liebe Menschen (ein Text mit viel Scheisse)
Es gibt für eine Satirikerin weiss Gott andere Fragen als die nach dem Corona-Zertifikat. Spannendere. Lustigere. Dramatischere: Wird ein Mann Kanzlerin? Muss Köppel nun seinen Wellensittich heiraten wegen der Ehe für alle? Und wer von beiden hat dann mehr Eier? Wieviel Mitgefühl braucht die Minderheit der Superreichen? Ist Mutter Erde im Klimakterium oder verursacht der Parasit Mensch solche Fieberschübe? Werden sich in Afghanistan Männer bald als Frauen ausgeben und freiwillig Burka tragen, weil ihnen die männliche Tragpflicht von Kalaschnikows auf den Sack geht? Heisst Yakin mit Vornamen Mu‘rat, weil er selbst bei der Besetzung der Elfmeter-Torschützen auf Mutters Rat hört?
Zu den realen Alltags-Fragen für uns Bühnenschaffende gehört aber auch, wie wir uns seit 18 Monaten dauernd neu erfinden können, wie finanzielle Einbussen in Kauf nehmen, wie mit faktischem Berufsverbot umgehen, wie mit Masken auf der Bühne oder im Publikum spielen, vor halbleeren Sälen, online, mit Massnahmen, Abständen, wie man das alles solidarisch mittragen kann und dabei noch gute Laune verbreiten.
Da ich trotz allem ein gutes Auskommen und ein noch besseres persönliches Umfeld hatte, gab es für mich keinen Anlass zu jammern oder öffentlich um Unterstützung zu bitten. Auch jetzt nicht. Andere haben es viel schwerer. Betreiberinnen von Fitnessstudios und Theatern, Beizer, Wirtinnen, Clubbesitzer. Sie alle fürchten Umsatzeinbussen wegen der Zertifikatspflicht.
Als ehemalige Wissenschaftlerin mag ich mich nicht zu Effizienz und Effektivität, zu Zahlen und Statistiken rund um Impfungen äussern. Wer sich auch jetzt noch nicht impfen lassen möchte, ist entweder für wissenschaftliche Argumentation nicht offen oder hat gute Gründe für den Impf-Verzicht. Und natürlich muss diese Entscheidung respektiert werden. Nebst gesundheitlichen Bedenken gibt es auch psychologische Gründe, warum Menschen sich nicht impfen lassen können oder wollen. Und falls der unwahrscheinlichste Fall eintritt, dass dereinst schwere Impf-Spätfolgen die halbe Menschheit umbringen, dann werden die Ungeimpften sogar recht gehabt haben. Back to the Futur II.
Ich werde mich also hier nur einmal ernsthaft zu dieser unsäglichen Zertifikatspflicht äussern. Denn ja, die Zertifikatspflicht ist genauso Scheisse wie die Massnahmen. Scheisse wie die Impfung. Scheisse wie die Pandemie. Scheisse wie die Corona-Erkrankung selbst, glaubt mir, ich hatte sie und sie ist sehr Scheisse. Wenn wir das Land in kurzer Zeit durchseucht hätten (ohne Impfung) wäre die Wirtschaft mehr zusammengebrochen als mit einem Lockdown. Lockdowns sind übrigens auch Scheisse, obwohl wir in der Schweiz gar nie wirklich einen hatten. Es ist Scheisse, dass ich nicht mehr einfach jemanden umarmen und küssen kann, einfach, weil wir beide es möchten. Es ist Scheisse, dass ich nicht die erste Reihe im Theater schonungslos anspucken darf. Es ist Scheisse, dass ich in einem so kurzen Text so oft das Wort Scheisse bemühe.
Wer also auf das Zertifikat verzichtet, ersetzt die eine Scheisse mit der anderen. Impfung/Test versus Einschränkungen. Wer sich also nicht zertifizieren lässt, nimmt Ausgrenzung in Kauf. Das tut weh und kann einsam machen. Vor allem, wenn man nebst der Ausgrenzung auch noch Spott und Vorwürfe ertragen muss. Denn vielen scheint es in der momentanen Situation höchst unsolidarisch, sich nicht impfen oder zumindest testen zu lassen. Da wird bei manchen der Schimpfdrang virulenter als der inexistente Impfzwang. Das Zertifikat ist aber immerhin die bisher einzige Möglichkeit, ein bisschen der alten Freiheiten im Kultur- und Gesellschaftsleben zurückzugewinnen. Uns winken Umarmungen, gefüllte Clubs, spontanes Essen im Restaurant, Theaterbesuche, Konzerte, Handschläge, Tanzen, Feiern, das alles ohne Maske, ohne Abstand und ohne schlechtes Gewissen. Denn alles weist darauf hin, dass man mit Impfungen die Ansteckungen seltener, die Krankheitsverläufe milder, die Todesraten äusserst tief und das Gesundheitssystem aufrecht halten kann.
Unsolidarisch sind ja auch Menschen, die mit dem Auto rasen und so andere gefährden. Unsolidarisch sind Leute, die die Umwelt grob verschmutzen. Leute, die mit exzessivem Sport oder ungesundem Lebensstil die Krankenkassen und Spitäler belasten. Menschen, die sich bereichern auf Kosten anderer, sind ebenfalls unsolidarisch. Wer eine Politik unterstützt, die das Gesundheitssystem mit zu wenig Ressourcen ausstattet, ist auch unsolidarisch. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Auch Geimpfte verhalten sich täglich unsolidarisch. Nur ist im Angesicht der Pandemie die Solidarität eine dringliche, die Gefahr eine akute. Ein unsolidarisches Arschloch zu sein (wie ich es bisweilen bin), kann sicher auch ansteckend sein, aber weniger schnell, weniger exponentiell und weniger tödlich.
Unsolidarisch mag es auch sein, dass Ungeimpfte die Tests selber bezahlen müssen. Dies soll Impf-Anreize schaffen, damit man eben keinen Zwang verordnen muss. Das mit den Anreizen funktioniert hierbei genau so wenig wie in der Umwelt-Politik. Vielmehr scheint gerade das teure Testen die Gesellschaft zu spalten, mehr noch als die Zertifikats-App (immer, wenn ich lese: „Zertifikats-App spaltet Wirte“, denke ich: „O my god, it’s App the Ripper!“). Allerdings kostet in einem Zürcher Club ein leichter Suff weit mehr als ein Test. Und um wieviel berauschender als Alkohol ist das massnahmenfreie Miteinander?
Geimpfte sind keine besseren Menschen. Ungeimpfte sind keine Menschen zweiter Klasse. Wer aufgrund des unterschiedlichen Impfstatus nicht mehr miteinander redet, hilft nicht, diese ganze Scheisse schneller und glimpflicher hinter uns zu bringen.
Drum: Bleibt anständig miteinander. Redet über anderes, wenn ihr wisst, dass die Positionen klar und unverrückbar sind. Und hört auf zu trotzen. Das Schlimmste, was Freiheitsliebende jetzt tun können, ist trotzen. Von einigen habe ich gehört, dass sie zwar geimpft seien und das Zertifikat hätten, nun aber gerade aus Trotz sicher nicht in die Beiz oder ins Theater gehen würden und der Bundesrat könne sich mit seinem Zertifikat ins Knie zertifi*ken.
Dem Bundesrat tut das nicht weh. Im Gegenteil: Sie schaden damit gerade jenen, die sich am meisten gegen die Zertifikatspflicht gewehrt haben. Sie schaden gerade jenen, die ohnehin schon am meisten leiden mussten und nichts für den Bundesrats-Entscheid können: Den Wirten, Den Clubbetreibenden, den Fitness-Studio-Besitzerinnen.
Seid also nicht wie das kleine Kind, das eben den Fahrradhelm aufsetzen wollte, ihn dann aber wieder abnimmt, weil die Mutter es ermahnt hat und das nun trötzelnd findet, ich wollte ja, aber wenn die Mami es befiehlt, dann mache ich es extra nicht, sie sieht dann, was sie davon hat, wenn ich mich am Kopf verletze. Spoiler: Die Mutter hat nichts davon. Aber die Schmerzen hat vor allem das Kind.
Wenn ihr also ohnehin geimpft seid: Nützt die Freiheit. Habt Spass am Leben. Kurbelt die Wirtschaft an. Unterstützt die Beizen und Clubs. Oder kommt ins Theater. Dann können wir gemeinsam ergründen, ob wir Köppels Wellensittich lieber ungeimpft lassen wollen, ihn dafür unter eine Burka stecken und so ins deutsche Kanzleramt schmuggeln, wo er für die Superreichen Energie produzieren kann, indem er, angefeuert von Mama Yakin, in einem Hamsterrad läuft und meint, es sei eine Karriere-Leiter.
Es grüsst
Patti Basler
(zertifizierte Satirikerin)
Bier ist der Beweis, dass Gott die Menschen liebt und will, dass sie glücklich sind
Ben Franklin