Mythos hat geschrieben: ↑28.06.2020 15:23
Absolute Leseempfehlung: Interview mit Gelson Fernandes in der NZZ am Sonntag. Eifach en geile Siech!
Habe kein NZZ-Abo und kann es deshalb nicht hier reinstellen. Vielleicht kann das jemand mit einem NZZ-Abo erledigen?
NZZ am Sonntag: Wir treffen uns, ein paar
Tage bevor Ihre Fussballkarriere in Frankfurt
endet. Was geht Ihnen durch den Kopf ?
Gelson Fernandes: Ich schlafe schlecht.
Mir kommt noch einmal vieles in den Sinn,
Spiele, Resultate. Gleichzeitig war ich noch
nie so entspannt in meinem Leben.
Warum?
Ich hatte immer viel Druck. Ich war früh
Profi, meine Spielweise erfordert Kraft und
Konzentration. Ich habe auch viel investiert
in Mitspieler. Jetzt spüre ich: Es ist genug.
Sie haben in zehn Klubs in halb Europa
gespielt. War das so geplant?
Geplant war es nicht, aber ich bin zufrieden mit meiner Karriere. Die vielen Stationen helfen mir für meine nächsten Schritte.
Ich habe verschiedene Kulturen erlebt, ich
spreche sieben Sprachen.
Warum kam es zu den Wechseln?
Unterschiedlich. Ich war in St. Etienne,
nach sechs Monaten gab es finanzielle Probleme. Ich hatte einen hohen Lohn und
wurde nach Leicester, Verona und Udine
ausgeliehen. Mit Sporting hatte ich Pech: Ich
kam in die schlimmste sportliche Krise des
Vereins. Wenn wir verloren hatten, mussten
wir manchmal bis Mitternacht warten, bis
wir zu unseren Autos konnten wegen der
wütenden Leute draussen.
Sie haben die Wechsel also nicht provoziert.
Als ich jung war, war ich ungeduldig. Bei
Manchester City sagte mir der Trainer:
«Dieser Klub wird gross, sehr gross, wir brauchen junge Spieler, du hast die richtige Persönlichkeit.» Ich sagte: «Ich gehe, ich will
Stammspieler sein.» Ich wollte alles, sofort.
Bereuen Sie es jetzt?
Es ist schade, dass ich niemanden hatte,
der mir sagte: «Gelson, pass auf, was du
machst.»
Sie waren so oft unterwegs: Konnten Sie überhaupt Freunde gewinnen?
Ich bin mit 18 von Sion weggegangen, dort
habe ich immer noch dieselben Freunde.
Aber andere Freundschaften habe ich kaum
geschlossen. Neben dem Verein war ich
häufig mit der Nationalmannschaft unterwegs. War ich zu Hause, musste ich mich
erholen. Ich habe so viele Geburtstage und
Hochzeiten verpasst. Natürlich verdienen
wir viel Geld, aber die Beziehungen leiden.
Und sie sind wichtig.
Sie waren sehr früh und lange von Ihrer Familie im Wallis getrennt.
Meine Mutter lebt im Wallis, 13, 14 Jahre
lang habe ich sie selten gesehen. Sie ist
glücklich, dass ich zurückkomme. Meine
grösste Angst war immer, dass ihr etwas passiert, wenn ich nicht da bin.
Sie bedauern, dass Sie weggegangen sind?
Ich hatte dafür eine grosse Karriere. Wer
zum Beispiel im FC Basel gespielt hat, während ich im Ausland war, lernte nicht die
grössten Ligen kennen. Aber er konnte seine
Familie sehen. Das ist auch schön. Drei Jahre
im Ausland sind genug, finde ich heute.
Wo ist Ihre Heimat?
Im Wallis. Aber auch auf den Kapverdischen Inseln.
Sie lebten nur fünf Jahre auf den Kapverden.
Wie haben diese Sie geprägt?
Ich habe Positivität und Kraft mitgenommen. Die Menschen dort sind arm. Ich hatte
die Ambition, ihnen zu helfen. Ich war nie
nur für mich auf dem Platz. Dieser Gedanke
hat mich durch die Karriere begleitet.
Als Sie in die Schweiz kamen, waren Sie arm.
Ihre Mutter hat als Putzfrau gearbeitet...
... am Anfang hat sie in einem Restaurant
die Wäsche gemacht. Papa hat bei einem
Bauer gearbeitet, war dann Bodenleger und
Schlosser, bevor er 2004 Platzwart wurde im
Tourbillon.
Und Sie gingen mit knapp 21 nach England
und verdienten plötzlich eine Menge Geld.
Ich hatte schon in der Schweiz im FC Sion
ein gutes Gehalt. Ich verdiente damals
12000 Franken im Monat.
Konnten Sie gut umgehen mit dem Geld?
Man kann darauf nicht vorbereitet sein. Es
braucht einen klaren Kopf.
Haben Sie auch Blödsinn gemacht?
Nicht so viel. Ich hatte ein schönes Auto,
einen Bentley Coupé.
Wie war es, als Sie dort 21-jährig ankamen?
Schwierig. Ich konnte kein Englisch. Die
Konkurrenz war gross, und sich im Ausland
durchzusetzen, war nicht einfach für einen
Schweizer. Ich bin ja auch kein Cristiano
Ronaldo. In Sion war ich Vizecaptain, der
kleine Junge von Christian Constantin. In
Manchester war ich niemand. Manchmal
habe ich geweint, so sehr hatte ich Heimweh
Waren Sie immer sicher, dass Sie auf dem richtigen Weg sind?
Ich wusste immer, dass ich es schaffe. So
wie ich immer wusste, dass ich Fussballer
werde. Mir ist klar, dass das viele Jungs
sagen. Aber bei mir war es kein Traum. Es
war mein Beruf.
Wie hat sich der Fussball verändert in Ihrer
Aktivzeit?
Er ist viel schneller geworden.
Und sonst?
Die grösste Veränderung sind die sozialen
Netzwerke. Für die Spieler bedeutet es noch
einmal mehr Druck.
Weil sie noch besser darauf achten müssen,
wie sie sich in der Öffentlichkeit bewegen?
Ist einer mit seinen Kumpels unterwegs,
kann das sofort auf einer Plattform landen.
Du bist auf der Bühne. Das ist nicht schön.
Was hat Sie gestört am Fussballgeschäft?
Ich habe nie verstanden, warum die Leute
den Fussballern gegenüber so kritisch sind.
Wie sie Spieler niedermachen. Das ist schwer
auszuhalten. Mit den sozialen Netzwerken
ist es noch schlimmer geworden. Was da für
Kommentare kommen – das ist unglaublich.
Haben Sie das selber auch erlebt?
Ich habe einmal nach 30 Sekunden eine
rote Karte bekommen. Was da gekommen
ist: «Mach Selbstmord», solche Sachen.
Unfassbar. Und ich habe nicht einmal für die
ganz grossen Klubs gespielt. Wenn du bei
Bayern, Real oder Barcelona bist, musst du
alle drei Tage damit umgehen können.
Dass es im Fussball immer wieder undurchsichtige Geschäfte gibt, hat Sie nie gestört?
Ich mache ein Beispiel: Ich war an Udinese
ausgeliehen, wir waren auf Champions-League-Kurs. In meinem Vertrag war vereinbart,
dass mich Udinese definitiv übernimmt,
wenn ich in einer bestimmten Anzahl an
Spielen eingesetzt werde. Allerdings nur,
wenn ich vor der 60. Minute spielte. Ich kam
meistens in der 62., 63. Minute. Ich kann
nicht sagen, ob es der Trainer extra gemacht
hat. Aber solche Dinge passieren.
Litten Sie unter Rassismus?
Als wir einmal mit Sion gegen Visp spielten, beschimpfte mich ein Gegenspieler als
«Scheissschwarzen». Und in Verona, dort
hatte ich Probleme. Mein Auto wurde zerstört, «geh nach Hause, negro di merda»
draufgeschrieben. Da habe ich meine damalige Frau zurückgeschickt ins Wallis.
Was müsste man unternehmen, um solche
Auswüchse zu stoppen?
Wenn es im Stadion zu einem rassistischen Übergriff kommt, müsste der Schiedsrichter das Spiel abbrechen. Und der Klub
müsste richtig hart bestraft werden.
Sie haben 67-mal für die Schweiz gespielt.
Doch alle sprechen immer nur über Ihr Tor
gegen Spanien an der WM vor zehn Jahren.
Regt Sie das auf ?
Nein. Meine Karriere in der Nationalmannschaft war toll. Ich habe zum Beispiel
2014 im Achtelfinal gegen Argentinien
gespielt. Ich war fünfmal an grossen Turnieren. Aber ich hatte grosse Konkurrenz auf
meiner Position: Gökhan Inler und Valon
Behrami. Dann kam Granit Xhaka, die
nächste Generation. Aber wir waren
Freunde. Wir hatten Respekt voreinander
Ich war im Mannschaftsrat, obwohl ich kein
Stammspieler war. Ich habe den Jungs elf
Jahre geholfen, ich habe sie mitentwickelt.
Für mich war das ein Traum.
Ihre Rolle als Ersatzspieler hat Sie befriedigt?
Ich war im Nationalteam, ich durfte mein
Land repräsentieren. Da kannst du nicht mit
deinem Ego kommen und sagen, du willst
Stammspieler sein. Ich war glücklich.
Obwohl Sie nicht in der ersten Reihe waren?
Ein Beispiel: In Brasilien spielte ich in der
Gruppenphase keine Minute. Ich bekam
viele Nachrichten, es sei ein Skandal, dass
ich nicht eingewechselt worden sei. Ich
sagte: «Kein Problem.»
Das haben Sie nicht wirklich empfunden.
Natürlich tat es weh. Aber was passiert?
Nach 60 Minuten im Achtelfinal gegen
Argentinien sagt Ottmar Hitzfeld: «Du gehst
rein.» Wenn ich dann böse und negativ bin,spiele ich schlecht. Aber ich machte ein gutes
Spiel und unterschrieb zwei Wochen später
einen Vertrag über vier Jahre in Rennes. Ich
wurde belohnt.
Sie sind ein Beispiel für Positivität. Aber es
muss doch Dinge geben, die Sie ärgern.
Egoismus hasse ich. Negativität hasse ich
auch. Das Leben ist schon schwierig genug.
Und seien wir ehrlich: Wir Fussballer haben
einen super Job, wir verdienen unglaublich
viel Geld, wir tun, was uns am liebsten ist.
Ein paar kurze Fragen zu Ihrer Karriere: Wer
ist der Beste, mit dem Sie gespielt haben?
Ousmane Dembélé. Antonio Di Natale.
Und der Beste, gegen den Sie gespielt haben?
Steven Gerrard, Frank Lampard, Paul
Scholes. Oder Xavi. Ja, Xavi.
Gegen wen spielten Sie am wenigsten gern?
Francesco Totti. Er war stark, aber unangenehm. Immer am Boden. Der Schiedsrichter hat schon gepfiffen, wenn man noch zwei
Meter entfernt war.
Was haben Sie gelernt im Fussball?
Geduld. Alles kommt zu seiner Zeit. Mach
dir keinen Stress, sei nicht zu euphorisch.
Was wird Ihnen das neue Leben bringen?
Zuerst: Ich habe vielleicht als einer von
wenigen von der Corona-Krise profitiert. Sie
gab mir Zeit, Abstand zu nehmen. Wäre es
ein schrittweiser Abschied gewesen vor
Publikum, wäre das emotional für mich viel
zu viel gewesen. Jetzt werde ich nach Sitten
ziehen und meinen Master in Sportmanagement fertig machen.
Sie studierten neben dem Fussball?
Ich hatte genug Zeit. Es gibt Klubs, die
sagen, Fussballer, die studieren, seien nicht
konzentriert auf dem Platz. Ich war nie so
stark wie während des Studiums.
Warum?
Mein Tag war strukturiert: Frühstück,
Training, Behandlung. Um 14 Uhr war ich zu
Hause. Dann habe ich bis am Abend gelernt.
Diese Disziplin hat mir sehr geholfen. Ich
musste etwas zu einem völlig unbekannten
Thema schreiben, musste mir alles erarbeiten. Ich weiss nicht, ob ich in Zukunft von 9
bis 17 Uhr in einem Büro sitzen werde. Aber
ich hätte keine Angst davor.
Sie werden ins Management einsteigen?
Bei einem Verein oder Verband.
Direktor des Nationalteams – das wäre ein
geeigneter Job für Sie.
Das sagen viele. Aber keine Sorge, Pierluigi Tami, das hat Zeit! Ich hatte bereits zwei
Angebote aus dem Ausland als Sportchef.
Aber ich möchte das nicht, auch wegen
meiner Töchter. Sie haben nur eine Kindheit.
Ich möchte sie nicht verpassen. Und sie
brauchen ihren Papa