Ich würde als Schweizer gegenüber einem Deutschen nicht ungefragt das politische System Deutschlands kommentieren. In dieser Diskussion möchte ich aber Ben Kings Aussage etwas Kontext hinzufügen.Ein Stuttgarter hat geschrieben: ↑30.05.2024 00:12Unsere Demokratie in Deutschland ist eine andere als eure in der Schweiz, trotzdem wird in Koalitionen nicht "am Volk vorbei" regiert. Mit den politischen Strukturen bin ich im Großen und Ganzen sehr zufrieden. Das Problem ist dagegen viel mehr, dass von den meisten Parteien die tatsächlichen Probleme (Klima, Demografie, notwendige Investitionen, ...) lieber ignorieren werden anstatt (echte) Lösungen dafür anzubieten. Für die Lösung tatsächlicher Probleme sind nun mal häufig tatsächliche Veränderungen notwendig. Stattdessen wird mit Scheinproblemen abgelenkt, bei denen sich nichts verändern muss. Bei den Scheinproblemen kommen die Desinformationskampagnen von Springer, Putin, Trump & Co. zur Unterstützung ("Flood the Zone with Shit"). Seriöse Medien müssten daher eigentlich besonders sachlich über die Politik berichten und da die tatsächlichen Inhalte in den Mittelpunkt setzten. Aber das passiert viel zu selten, sodass es sich (zumindest bisher) für die Union (CDU/CSU) in Umfragen lohnt, mit Dreck auf den politischen Gegner (Die Grünen) zu werfen, statt mit eigenen Inhalten die Wähler zu überzeugen.
Aber das ist meiner Meinung nach nicht nur in Deutschland ein Problem, sondern überall in den westlichen Demokratien, völlig egal, ob es ein Zwei-Parteien-System (USA/Großbritannien) oder eine Koalitionsregierungen (Deutschland/Österreich) ist. In der schweizer Politik kenne ich mich zwar nicht so gut aus, denke aber, dass es da ähnliche Probleme gibt.
Das Problem mit unseriösen Medien und Desinformation ist universell, das haben wir auch in der Schweiz. Bezüglich des politischen Programms haben wir aber (im Unterschied zu Deutschland) ziemlich griffige Einflussmöglichkeiten. Als Schweizer kann man Politiker deutlich einfacher abwählen (Proporz-Wahlsystem), ein Gesetzgebungsverfahren erzwingen (Volksinitiative) und beschlossene Gesetze des Parlaments ablehnen (Referendum). Auch zwischen den Wahlen hat der Souverän regelmässig die Gelegenheit, der Regierung bzw. dem Parlament in einer Sachfrage einen klaren Auftrag zu erteilen.
In Deutschland haben die Parteien eine sehr mächtige Stellung: Sie bestimmen den Spitzenkandidaten jedes Wahlkreises (man kann keinen anderen Kandidaten der selben Partei wählen), führen die Koalitionsverhandlungen, und können via Fraktionsdisziplin grossen Druck auf einzelne Abgeordnete ausüben. Wenn du als Wähler deine Stimme aufgrund von bestimmten Sachfragen fällst, musst du dich danach voll auf die gewählte Partei verlassen. Wenn diese später ihre Meinung ändert, oder in den Koalitionsverhandlungen das Thema fallen lässt, oder aus polittaktischen Gründen eine Koalition platzen lässt (Stichwort "lindnern"), hast du deine Stimme verschenkt und wirst erst in 4 Jahren wieder gefragt.
Man hat als Schweizer - aus meiner Sicht nicht unberechtigt - den Eindruck, dass der deutsche Bundestag bzw. die Bundesregierung deutlich weiter entfernt vom Wählerwillen agieren können, als es in der Schweiz möglich wäre. Wohlgemerkt ist da nicht Deutschland sondern die Schweiz der Spezialfall unter den Demokratien. Trotzdem, wer solche Volksrechte hat, weiss sie zu schätzen. Das ist übrigens auch einer der wesentlichen Gründe warum der EU-Beitritt in der Schweiz derzeit chancenlos ist.