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von Ebay » 20.02.2022 15:32
Schon 23 Ausfälle diese Saison
YB schmerzt es überall – welche Rolle spielt der Kunstrasen?
Die Verletzungsserie bei den Young Boys nimmt unheimliche Ausmasse an. Der medizinische Staff übt sich seit Wochen in einem Balanceakt.
Moritz Marthaler
Publiziert am 19. Februar 2022 um 09:56 Uhr
Eine von 23 Verletzungen in dieser Saison: Im Herbst renkte sich YB-Goalie David von Ballmoos bei der Cup-Niederlage in Lugano die Schulter aus.
Foto: Urs Lindt (Freshfocus)
Christian Fassnacht, Bänderverletzung. Meschack Elia, Bänderverletzung. Mohamed Camara, Unterarmbruch. Felix Mambimbi, Zehenverletzung. Nico Maier, muskuläre Probleme. Joel Monteiro, Oberschenkelverletzung. Fabian Lustenberger, Rückenprellung. Quentin Maceiras, Innenbandverletzung.
Was sich liest wie das Verletzungsbulletin für ein halbes Jahr, ist bei den Young Boys gerade mal die Bestandesaufnahme für einen Monat. Verflixter Februar, lässt sich aus YB-Sicht schon sagen, bevor der Monat überhaupt zu Ende ist.
Die nicht abreissende Serie von Blessuren beim Meister ist aussergewöhnlich und beherrscht die Kadersituation. 23 Ausfälle hatte YB in dieser Saison zu beklagen. Zählt man die Achillessehnenrisse dazu, die Fabian Lustenberger und Jean-Pierre Nsame in der Vorsaison erlitten und die sie für Monate ausser Gefecht gesetzt haben, sind es 25 Ausfälle, verteilt auf 16 verschiedene Fussballer.
Rechnet man die Ausfälle auf Ligaspieltage hoch, welche die verletzten Spieler verpasst haben, kommt man auf über 100. «Es ist eine extreme Anhäufung, wir sind sehr stark beansprucht», sagt Jan Montagne, Teamarzt bei den Young Boys, «mehr Verletzte heisst für uns auch: mehr Austausch, mehr Analyse, mehr Prognosen.»
Wie prägt der Kunstrasen die Körper der Athleten?
In der Vorrunde war das Programm mit 33 Partien entsprechend dicht, nun kann die Belastung im Wochenspielrhythmus kaum mehr ein Grund für die Misère sein. Intern habe man sich auf die Suche nach Gründen für die vielen Ausfälle gemacht, sagt Montagne, «nur lassen sich aus den einzelnen Verletzungen kaum Rückschlüsse ziehen, weil fast alle Arten von möglichen Verletzungen aufgetreten sind». Es gab Muskel- und Bänderverletzungen, es gab schwere Traumata wie bei Fassnachts Schläfenbeinbruch oder Michel Aebischers Fraktur an der Stirn. Es gab die typische Fussballerblessur, das wegen Abknicken verletzte Sprunggelenk. Es gab seltene Trainingsverletzungen wie jüngst Mohamed Camaras Unterarmbruch. Es gab operative Routineeingriffe wie bei Meschack Elia oder einen entzündeten Zeh bei Felix Mambimbi.
Und auch wenn sich die YB-Fussballer ziemlich gleichmässig sowohl auswärts als auch im Wankdorfstadion verletzten, kommen unweigerlich Fragen nach dem Kunstrasen auf. Wie prägt er die Körper der Athleten? Verändert er ihre Konstitution, weil sie jeden Tag darauf trainieren, manchmal auch mehrmals pro Woche darauf spielen?
Die Unterlage macht das Spiel schneller, kommt technisch versierten Spielern entgegen. Beliebt aber ist sie nicht bei allen Fussballern. Als Guillaume Hoarau sich 2014 mit YB einig war und in Bern zur Unterschrift weilte, machte er beinahe auf dem Absatz kehrt. Er ist noch heute der Meinung, dass ihm der Kunstrasen mehr Schmerzen verursachte, mehr muskuläre Probleme, mehr Entzündungen. «Aber wenn du jeden Morgen kommst und denkst: Das ist ein schlechter Rasen, dann wird es schwierig, Erfolg zu haben.»
Seit 2005 und der Rückkehr ins Wankdorfstadion spielt YB vorwiegend auf dem Kunstgeläuf. Es gab Phasen mit Naturrasen: Ganz zu Beginn, rund um die EM 2008, später während und nach der Ära von Trainer Christian Gross. Betreuer aus der Zeit, in der der erste Kunstrasen verlegt wurde, berichten von mehr Bänderverletzungen, mehr Sehnenreizungen. Nach etwa einem Jahr sei das abgeklungen.
Die künstlichen Spielunterlagen haben sich seither enorm entwickelt. Schon etliche Male wurde in Bern ein neuer Rasen verlegt, zuletzt 2019 einer von der deutschen Firma Polytan. Kinderkrankheiten der frühen Kunstrasen-Generationen wie Hautverbrennungen nach einem Tackling sind längst ausgemerzt, die Dämpfung wurde stetig verbessert. «Unterschiede zum Naturrasen bleiben», sagt Teamarzt Montagne, «die gibt es aber auch innerhalb der Naturrasen.» Ein gefrorener, ackerhafter Untergrund im winterlichen Tourbillon sei etwas anderes als ein frisch gemähter Rasen im Sommer im St.-Jakob-Park.
Auch die Sportwissenschaft beschäftigt sich mit der These, wonach der Kunstrasen Fussballer verletzungsanfälliger machen soll. Bis heute haben eine Handvoll Studien versucht, den Zusammenhang quantitativ mithilfe von Daten von Clubs aus ganz Europa zu untersuchen. Alle kamen zum Ergebnis, dass es keine direkte Korrelation gibt. Der schwedische Sportwissenschaftler Jan Ekstrand hat zwei dieser Studien verfasst und untersuchte die Beziehung auch im Auftrag der Fifa. Seine Datensammlung förderte zwei interessante Erkenntnisse zutage: Auf dem Kunstrasen gibt es tendenziell weniger Zerrungen, dafür mehr Verstauchungen.
Beides hält sich im breiten Lazarett der Young Boys in dieser Saison etwa die Waage. «Wir erleben wirklich alles», sagt Montagne. «Und wir haben uns diese Fragen alle auch gestellt, aber Hinweise auf einen direkten Zusammenhang haben wir keine.»
Folgeschäden um jeden Preis verhindern
Klar ist, dass YB so lange an den Kunstrasen gebunden ist, wie die Debatte um ein Trainingszentrum anhält. Die Diskussion flammt in der Ortspolitik immer mal wieder auf, die Ideallösung für den Club läge vor der Haustür, auf der gegenüberliegenden Strassenseite auf der Allmend. Doch die ist ein unübersichtliches Politikum, und solange die Young Boys keine Trainingsalternativen haben, die einen Naturrasen im Stadion entlasten könnten, liegt dort weiterhin ein Kunstrasen.
Der Horizont für den medizinischen Staff in der YB-Saison ist sowieso kürzer gefasst. Jan Montagne teilt sich die Aufgabe als YB-Arzt mit drei anderen Ärzten auf Mandatsbasis, dazu kommen drei Physiotherapeuten und ein Masseur. «Wir sind acht Leute, die alle immer auf dem gleichen Stand sein müssen. Der Austausch ist sehr intensiv.»
Die rasende Entwicklung im Fussball fordert auch den medizinischen Sektor. Die Betreuer sind stärker gefordert, Prognosen haben an Bedeutung gewonnen und werden schnell benötigt. «Vor zehn Jahren gab es bei Muskelverletzungen einfach mal Pause auf unbestimmte Zeit – heute braucht es sofort eine Zeitangabe.»
Für die Clubs und den medizinischen Staff bleibt es ein Balanceakt: Ein verletzter Spieler – in den jeder Verein Zeit, Geld und Risiko investiert – soll möglichst bald wieder auf dem Platz stehen; gleichzeitig sollen aber um jeden Preis Folgeschäden verhindert werden, die nicht nur schlecht für den Fussballer selbst wären, sondern auch für dessen Wert. «Wir haben zwei Dinge zu berücksichtigen: die Gesundheit und die Entwicklung des Spielers. Das eine gibt es nur mit dem anderen.»
Am Freitag kann YB gewissermassen zwei Erfolge melden: Zur Verletztenliste gesellt sich kein neuer Name – und der Februar dauert nur noch 10 Tage.
Die Anzahl unserer Neider bestätigt unsere Fähigkeiten. (Oscar Wilde)