timão hat geschrieben: ↑25.06.2020 06:55
Fussballer auf Einsteins Spuren
Lukas Görtler wird im überraschenden Team des FC St. Gallen eine Art Vaterrolle zugeschrieben
Marco Ackermann
In den Wochen vor dem Corona-Lockdown wurde viel über den Fussballer Lukas Görtler erzählt. Der FC St. Gallen spielte im zweitletzten Match vor dem Unterbruch in Luzern. Nach drei Minuten erhielt Görtler einen Schlag auf den einen Oberschenkel. Diese «Tomate» schmerzte so sehr, dass jeder Schritt zur Qual wurde. Nach zwanzig Minuten schluckte Görtler ein Schmerzmittel. Und bis in die Anfangsphase der zweiten Halbzeit biss er durch.
Für die Partie gegen YB in der Woche darauf konnte er nur einmal halbwegs trainieren und sich erst kurz vor Spielbeginn fit melden. Und dann, in diesem aufregenden Spitzenkampf, war Görtler der auffälligste Spieler auf dem Platz. Er bereitete gegen den Meister das 1:0 vor, das 2:2 ebenfalls, er kämpfte, grätschte und sprintete, und als viele schon mit dem Unentschieden gerechnet hatten, köpfelte er den Ball in der Nachspielzeit zum 3:2 ins Netz – der vermeintliche Siegtreffer.
Nach dem Match trat Görtler vor ein TV-Mikrofon, ganz aufgewühlt. YB hatte in der 99. Minute noch ausgeglichen, durch einen Penalty, den der Video Assistant Referee wiederholen liess. Und Görtler sagte: «Unbegreiflich» sei das, wie dieser VAR «die Emotionen kaputt» mache. Noch Tage später hatte er sich nicht beruhigt. Er sagte gegenüber der NZZ: «Es fühlt sich an, als hätte uns jemand etwas geklaut.» Er tue sich schwer, wenn es wie bei diesem Penalty nur um «Schwarz oder Weiss» gehe. Bei anderen Regeln im Fussball gebe es ja auch einen Spielraum für Interpretation.
Mit 19 Gemeinderatskandidat
Lukas Görtler, 26, aus der Nähe von Bamberg in Bayern, sind die Grautöne und Schattierungen im Leben wichtig. Er hat seine Haare immer perfekt gescheitelt, im Wesentlichen widerspricht er aber dem Klischeebild des Profifussballers. Er sagt gerne: «Vieles ist Kopfsache.» Doch den ganzen Tag nur an Fussball zu denken, das sei ihm zu anstrengend.
Görtler liest viel, interessiert sich für Naturwissenschaften und Glücksforschung und besucht öffentliche Vorlesungen an der Universität HSG, so war er etwa an einem Vortrag über Albert Einsteins Relativitätstheorie. Auch weil er dabei an den Klimawandel denkt, ernährt er sich seit knapp vier Jahren vegetarisch. Und er hat sich ein Secondhand-Teleskop gekauft. Damit schaut er ins Universum. Er sagt: «Da versteht man dann, wie unbedeutend der einzelne Mensch ist.»
Lukas Görtler wird im jugendlichen Erfolgsteam des FC St. Gallen eine Art Vaterrolle zugeschrieben. Wenn er mit dem Auto ins Training fährt, lädt er seine ghanesischen Teamkollegen Nuhu und Zigi auf, die in der Stadt auf den Bus warten. Und wenn einer einen Tipp möchte zur Frage, wie er sein Geld anlegen soll, versucht Görtler zu beraten. Parallel zur Fussballerkarriere hatte er vier Jahre lang als Informatikkaufmann gearbeitet, und im Alter von 19 Jahren kandidierte er in seinem Heimatdorf Kemmern für die CSU für den Gemeinderat. Er ermuntert die Mitspieler dazu, Eigenverantwortung wahrzunehmen. Er fülle seine Steuererklärung selbst aus. Schliesslich wolle er über das Leben Bescheid wissen, wenn er dereinst kein Spitzensportler mehr sei.
Und so lässt sich der Wert von Lukas Görtler für den FC St. Gallen auch daran ablesen: dass er die Mitspieler mitreisst und sie an seiner Seite aufblühen. Exemplarisch ist die Entwicklung des jungen Captains Silvan Hefti. Dieser hatte einst auf dem Portal «Transfermarkt» als einer der grössten Rechtsverteidiger-Talente der Welt gegolten. Doch zwischendurch drohte er zum Sorgenkind zu verkümmern, die Angebote für ihn blieben plötzlich aus.
Nun, seit Görtler vor ihm im Mittelfeld spielt, ist Hefti wieder jener Spieler, der seinem Ausbildungsklub einen Millionenbetrag einbringen könnte. Das rechte Couloir des FC St. Gallen ist etwas vom Besten, was die Super League derzeit zu bieten hat. Beim 2:1-Sieg in Sitten am vergangenen Samstag wurden beide Tore der Ostschweizer über jene Seite vorbereitet. Görtler und Hefti verstehen sich auch privat prächtig.
Im Büro von Uli Hoeness
Die verantwortungsvolle Position im Team ist der Grund, weshalb Lukas Görtler überhaupt in St. Gallen spielt. Vor einem Jahr hatte er sich mit dem FC Utrecht in der kompetitiven niederländischen Liga für die Europa League qualifiziert, an diesem Erfolg hatte Görtler in der finalen Phase einen entscheidenden Anteil. Doch er vergass nicht, wie er davor um den Stammplatz hatte ringen müssen. Görtler wünschte sich einen Klub, bei dem er mehr Vertrauen spürt. «Bei dem ich nicht nach einem einzigen schlechten Spiel für zwanzig Runden aus der Startelf falle.»
In St. Gallen bekam er diese Rolle des Leaders – und sie tut ihm sichtlich gut. Ist es diese vielbesungene «deutsche Mentalität», die ihn so beflügelt? «Ach, ich weiss nicht», sagt Görtler, «aber die Leidenschaft und die Lust am Gewinnen sind schon Stärken in meinem Spiel.» Er sei in seinen Jugendteams nie der Talentierteste gewesen, von den damaligen Kollegen habe es jedoch kaum einer so weit gebracht wie er. Diese Zielstrebigkeit hat ihn bis in die Organisation des FC Bayern München getragen. Er gehörte dort zu den Amateuren im Reserveteam und kam in der Saison 2014/15 unter dem Trainer Pep Guardiola sogar zu einem Bundesliga-Einsatz für die erste Mannschaft.
Doch eines Tages suchte Lukas Görtler das Büro von Uli Hoeness auf. Er teilte der Manager-Ikone mit, dass er sich wünsche, den Vertrag mit dem FC Bayern aufzulösen. Görtler hatte ein Angebot aus der 2. Bundesliga vorliegen, vom 1. FC Kaiserslautern. Er erzählt: «Manche hielten mich wohl für verrückt. Wer verlässt schon freiwillig den FC Bayern?» Doch in Kaiserslautern habe er endlich das grosse Ziel erreichen können: ein Dasein als Vollprofi zu führen. In München seien die Chancen darauf gering gewesen.
Dennoch habe ihm die Zeit bei den Bayern etwas Wichtiges aufgezeigt: dass im Leben immer alles möglich sei. Die Spieler des FC St. Gallen, die in ihrer Karriere immer wieder Hindernisse überspringen mussten, wissen nur zu gut, dass man manchmal länger nach dem Glück forschen muss. Während der Corona-Pause, so berichtete es Lukas Görtler, habe er das Buch «Flow – das Geheimnis des Glücks» von Mihály Csíkszentmihályi gelesen. Er und seine St. Galler Mitspieler dürften spüren: In diesen Wochen ist vieles möglich – sogar der Meistertitel.
Aus dem NZZ-E-Paper vom 25.06.2020